Entwicklung eines Tools zur Empfehlung von Strategien zur Schwingungsberuhigung – #3

Hallo liebe OpenAdaptroniker

Im letzten Post habe ich erklärt, wie der Lösungsraum zur Schwingungsberuhigung eingeteilt werden kann und wie die Empfehlungen des Tools später aussehen sollen. Die Unterscheidung nach passiv, semi-aktiv und aktiv (sowie nach Energiewandlung) sollte klar geworden sein. Die Unterscheidung nach dem Lösungsansatz soll in diesem und ein paar weiteren Posts behandelt werden. Zur besseren Übersicht hier noch einmal die Einteilung des Lösungsraums:

Lösungsraum - Einteilung der verschiedenen Strategien zur Schwingungsberuhigung
Lösungsraum – Einteilung der verschiedenen Strategien zur Schwingungsberuhigung

Grundsätzlich gibt es fünf Lösungsansätze, die sich in der Darstellung des Lösungsraums in der Spalte ganz links wiederfinden. Damit das Tool seine Empfehlungen später möglichst gut treffen kann, ist ein tiefgreifendes Verständnis der einzelnen Lösungsansätze umbedingt erforderlich. Auch der Nutzer des Tools muss – zumindest oberflächlich – mit den Lösungsansätzen vertraut sein um mit der abstrakten Empfehlung eine konkrete Lösung umzusetzen. Das Tool muss also später über eine gut verständliche „Gebrauchsanleitung“ verfügen, aber eins nach dem anderen.

Um hier eine einigermaßen detailierte Darstellung der Lösungsansätze zu geben, werde ich versuchen sie nacheinander knapp aber möglichst vollstänig vorzustellen.

Verminderung der Erregung

Dieser Ansatz ist natürlich der naheliegendste. Wenn man die Straßenbahn dazu bringen kann, nicht mehr vor dem Hobbylabor vorbeizufahren oder die Quadrocopter-Motoren laufruhiger macht, kommt weniger Schwingung am optischen Insrument an. Leider geht das in der Regel nicht oder nur begrenzt. Im Tool soll dieser Ansatz nicht betrachtet werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Nutzer die Verminderung der Erregung schon so gut wie möglich umgesetzt hat, bevor er weiterführende Maßnahmen in Betracht zieht.

System verstimmen

Dieser Ansatz bedeutet, dass die Eigenfrequenz der Struktur, auf der sich das Instrument befindet, „verschoben“ wird, indem die Masse und/oder die Steifigkeit verändert werden. Das ist dann sinnvoll, wenn vorher die Eigenfrequenz und eine oder mehrere Erregungsfrequenzen aufeinander gefallen sind. Diesen Fall nennt man Resonanz. Schiebt man die Eigenfrequenz in einen Frequenzbereich, in dem die Erregung gering ist, wird das Schwingungsverhalten erheblich verbessert. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, die Eigenfrequenz in einen Frequenzbereich zu bringen, der für die Anwendung des Instruments keine Rolle mehr spielt.

Für einen Einmassenschwinger, wie er in der folgenden Abbildung dargestellt ist, berechnet sich die Eigenfrequenz zu Wurzel von k/m also Ω=√(k/m).*

struktur

Werfen wir nun einen Blick auf die Frequenzspektren von x_0 und x_1 (Diagramm oben und unten) sowie das Übertragungsverhalten (Diagramm mitte) einer möglichen Konfiguration dieses Einmassenschwingers, die als Beispiel dienen soll. Das Verhalten der unverstimmten Struktur ist in blau und das der Verstimmten in orange dargestellt:Verstimmen

Die Erregung am Fußpunkt der Struktur (schwarz, oben) soll in diesem Beispiel durch drei Erregungsfrequenzen gleicher Amplitude bei 80, 100 und 150 Hz  gekennzeichnet sein. Durch das Übertragungsverhalten der unverstimmten Struktur werden die ersten beiden Erregungsfrequenzen verstärkt, wir haben also Resonanz vorliegen (blau, mitte und unten).**
Jetzt wird das System verstimmt, indem die Masse verfünffacht wird, k und d bleiben gleich (orange, mitte). Die Eigenfrequenz des Systems liegt jetzt um den Faktor √(1/5) niedriger (wegen Ω=√(k/m)). Obwohl die Magnitude der neuen Eigenfrequenz größer als die des alten Übertragungsverhaltens ist, wird eine sehr starke Schwingungsminderung erzielt, weil jetzt die Erregungsfrequenzen und die Eigenfrequenz nicht mehr im gleichen Bereich liegen (orange, unten).***

Je nach Anwendung ist es auch noch möglich, das System „einstellbar“ auszuführen, d. h.  m und/oder k können ohne großen Aufwand manuell verändert werden (z.B. mit einstellbaren Federelementen oder Zusatzgewichten). Das hat den Vorteil, dass man eine gute Konfiguration leicht durch Ausprobieren herausfinden kann, ohne dass ein tiefgreifendes Verständnis oder eine Simulation des Systems nötig wäre. Außerdem kann so auf eine mit der Zeit auftretende Veränderung des Systems, z.B. aufgrund von Korrosion oder Abnutzung, reagiert werden.

Die erläuterte Verstimmung des Systems ist in diesem Fall passiv. Laut Lösungsraum gibt es allerdings noch weitere Möglichkeiten ein System zu verstimmen:

Semi-aktive Systemverstimmung funktioniert prinzipiell wie eine einstellbare passive Systemverstimmung, mit dem Unterschied, dass k und m nicht manuell sondern mit einer Aktorik eingestellt werden. Dadurch können die Struktureigenschaften im Betrieb angepasst werden. Wenn z.B. eine sich ändernde Motordrehzahl Schwingungen erzeugt, kann das Strukturverhalten im Betrieb immer so auf die Drehzahl eingestellt werden, dass keine Resonanz eintritt.

Aktive Systemverstimmung beruht auf einem anderen Prinzip. Anstatt die tatsächliche Steifigkeit und Masse der Struktur zu verändern, werden k und m virtuell verändert. Grundsätzlich gilt:

Federkraft = k * Wegdifferenz          und          Trägheitskraft = m * Beschleunigung.

Wenn jetzt mit einem Aktor Kräfte in die Struktur eingeleitet werden, die weg- und beschleunigungsproportional sind, dann hat das den gleichen Effekt, als hätte man k und m tatsächlich geändert. Natürlich braucht man neben dem Aktor auch einen Weg- bzw. Beschleunigungssensor sowie eine Regelung, die die zu stellenden Kräfte bestimmt. Der Vorteil dieser virtuellen Systemverstimmung liegt zum einen darin, dass die Regelung und damit das Systemverhalten sehr vielfältig und im Betrieb dynamisch angepasst werden können. Zum anderen kann mit dem gleichen Aufbau zusätzlich eine virtuelle Dämpfung realisiert werden, was weitere Vorteile bietet. Aber dazu mehr im nächsten Post. Bis dann.

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* Ω ist streggenommen die ungedämpfte Eigenkreisfrequenz. Außerdem haben reale Strukturen im Allgemeinen mehrere Eigenfrequenzen. Zum besseren Verständnis wurde hier etwas vereinfacht.
** Anmerkung: Die gestrichelte Linie stellt die Magnitude 1 dar. Oberhalb werden Amplituden verstärkt und unterhalb abgeschwächt.
*** Anmerkung: Der Grund für die erhöhte Magnitude ist die Tatsache, dass sich durch die größere Masse das sogenannte Lehrsche Dämpfungsmaß verringert hat: D=d/(2⋅√(k*m))

 


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